Ceterum censeo corruptionem esse delendam

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Beweismittelvernichtung im Mordfall Kaffenberger

Die Staatsanwaltschaft Darmstadt im Zwielicht

Nahe der südhessischen Stadt Dieburg ereignete sich 1995 eine rätselhafte Bluttat, deren Hintergrund mehr als ein Jahr später einen ranghohen Kommunalpolitiker in größte Verlegenheit brachte - und die "Unabhängigkeit" der Justiz auf die Probe stellte.


" Warum ich unser Land liebe trotz der wiederkehrenden Skandale? Einzig und allein wegen Seiten wie dieser, und das heißt, weil es couragierte Menschen gibt wie Wilhelm Weller, die Skandale aufspüren und öffentlich machen. Es ist ein Zeichen für die Stärke unserer Demokratie: was für ein Dreck auch immer unter den Teppich gekehrt wird - er liegt dort keineswegs sicher! Und was ich an diesem Text zusätzlich schätze: er liest sich leicht und spannend!" (Malte Bremer, Literaturkritiker)


Einleitung

urteil Darmstädter Echo (28.5.1998)

Dass Staatsanwälte in Deutschland "Ermittlungsverweigerer" sein können, wenn die Interessen und das Ansehen politisch einflussreicher oder sonst mächtiger Personen auf dem Spiel stehen, hat Prof. Wilhelm Hennis vor einiger Zeit im Fall der Bonner "Bundeslöschtage" beklagt. Zornig über "offenbar mangelhafte Ermittlungen" in einem Fall von "Staatskriminalität", der "beispiellos ist in der Geschichte westlicher Verfassungsstaaten" prangerte er in einem Essay für die Hamburger "ZEIT" eine "Untertänige Justiz" an.

"Mangelhafte Ermittlungen" bzw. "unübersehbare Ermittlungsfehler" mussten auch in einem 1996 / 1997 am Landgericht Darmstadt geführten Prozess offen von Seiten des Vorsitzenden Richters eingeräumt werden.
Das Besondere an diesem "Fall Kaffenberger": Es war ein Mordprozess und indirekt ging es um das Ansehen eines ranghohen (Kommunal-)Politikers, dessen Sohn mit den beiden wegen Mordes angeklagten jungen Männern ein kriminelles Trio gebildet hatte, vielleicht sogar als Kopf der Bande.
Eine Vielzahl (zufälliger?) "Ermittlungsfehler", "unüblicher" Vorgehensweisen und Entscheidungen führte bei zahlreichen Prozessbeobachtern zu einem Eindruck, den der Gerichtsreporter des "Darmstädter Echos" mit diesen Worten beschrieb:

"Der Eindruck, dass die Herrin der Ermittlung vieles tat und noch mehr unterließ, um aus dem Tatduo in der Mordanklage kein Täter-Trio werden zu lassen, ist naheliegend. Dies bildete den Nährboden für jene Gerüchte, dass dies mit der Stellung des Vaters ..... in Zusammenhang stehen könnte. " (DE, 28.5.1998)

Aus der Sicht zahlreicher Beobachter schienen die Ermittlungen von einem stillen, politisch bedingten Wunsch geleitet:
Dem Politikersohn das Gefängnis zu "ersparen" - und dem Vater (und seiner Partei) die damit verbundene Schmach.
Beklagt wurde ein "Recht mit zweierlei Maß", das dem Prominentensohn eine Vorzugsbehandlung bescherte. Etwa durch das abgetrennte, nur 3 Stunden währende Verfahren am Amtsgericht seiner Heimatstadt, das mit einer skandalös milden Bewährungsstrafe schloss.
In dem vom 25. Juli 1997 bis zum 27. Mai 1998 vor der 2 . Strafkammer des Landgerichts Darmstadt geführten Prozess gegen seine beiden Kumpane ging es nicht nur um das, was diesen zwei jungen Männern zur Last gelegt wurde: gemeinschaftlicher Mord, Raub, Einbruchdiebstahl und unerlaubter Waffenbesitz.
Es ging auch um die Rolle des dort nur als Zeuge vorgeladenen Politikersohns.

Schließlich ging es um schwerste Vorwürfe an die Staatsanwaltschaft und die ihr zuarbeitende polizeiliche Sonderkommission: So waren Beweismittel vernichtet worden, etwa eine Festplatte, deren Formatierung angeordnet wurde. Proben des Gerichtsmediziners wurden nicht aufbewahrt und nicht beachtet. Es ging um ein fehlendes Alibi, das nicht überprüft worden war, um Geständnisse, die unter fragwürdigen Bedingungen zustande kamen - und auch Unschuldige monatelang in U-Haft brachten.
Kein Fall, der bundesweites Aufsehen erregte, allerdings ein Fall, der fast exemplarisch die Unabhängigkeit und Korrektheit von Justiz und Polizei in Frage stellte.

Das Darmstädter Echo und sein wachsamer Gerichtsreporter

Mit einer Auflage von ca. 120 000 Exemplaren ist das Darmstädter Echo verglichen mit der benachbarten Frankfurter Rundschau eine kleine, regionale Tageszeitung. Ein solides Blatt, das nicht als ausgesprochen investigativ oder kritisch bekannt ist.
Die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Mordfall Kaffenberger fanden und erzwangen aber auch in dieser Zeitung ein ungewöhnlich scharfes Echo.
Zu danken war das vor allem Reinhard Jörs von der Lokalredaktion Darmstadt-Dieburg, der in mehr als 50 Artikeln den 10-monatigen Prozess in Darmstadt und den "Kurz-Prozess" in Dieburg wachsam und kritisch verfolgte - und kein (Zeitungs-) Blatt vor den Mund nahm.
Vor allem seine letzten Berichte zum Ausgang dieses Prozesses lassen an Deutlichkeit kaum noch zu wünschen übrig.
So resümiert er am 28. Mai 1998 nach Verkündung des Urteils in einem Kommentar:

"Doch im Mordfall Kaffenberger ist leider mehr geschehen. Da wurden wichtige Beweismittel vor dem Prozess in einem Ausmaß vernichtet, das tatsächlich nur zwei Schlüsse zulässt: Entweder, die die Ermittlung leitende Staatsanwältin war schlicht überfordert, oder sie wollte keinen anderen Ablauf des Tatgeschehens sehen."

In seinem letzten Kommentar vom 2. Juli 1998 (Titel: "Alles nur Zufall?") stellt Jörs zu den "enttäuschenden Auftritten der Ermittlungsbehörde" fest, dass diese mit einer "fadenscheinig" wirkenden Begründung für das nun wirklich Gewollte (Rücknahme der Berufung) solche Gerüchte ein weiteres Mal eher bestätigt hat, als ihnen zu begegnen.
Zum umstrittenen Vorgehen insbesondere der Staatsanwaltschaft Darmstadt schreibt Jörs:

"Dies allein auf die damit betraute Staatsanwältin zu beziehen, würde zu kurz greifen. Trotz gerichtlich schon vor Monaten festgestellter erheblicher Mängel versäumte es die Leitung der Behörde, personelle Konsequenzen zu ziehen. Augen zu und durch". (DE 28.5.1998)

Wegen des an die verantwortliche Staatsanwältin gerichteten Vorwurfs der "systematischen Vernichtung von Beweismitteln" wendet sich im April 1998 die südhessische Tageszeitung sogar selbst an die Staatsanwaltschaft Darmstadt:

"Dies sei eigentlich ein Offizialdelikt, das die Leitung der Staatsanwaltschaft zu prüfen habe, räumt deren Pressesprecher Herbert Spohn auf Anfrage dieser Zeitung ein. Doch geschehen sei nichts. Denn die Behördenleitung sei der Auffassung, dass kein begründeter Verdacht vorliege." (DE 21.4.1998)
Hierzu schreibt das Darmstädter Echo abschließend:

"Sollte die Staatsanwaltschaft weiter nichts unternehmen, könnte dies den Straftatvorwurf der Strafvereitelung nach sich ziehen, diesmal gegen die Behördenleitung in Darmstadt."

Strafvereitelung

"Wer absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil vereitelt, dass ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft ... wird, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft... Ist in den Fällen des § 258 Abs. 1 der Täter als Amtsträger zur Mitwirkung bei dem Strafverfahren .... berufen, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe... Der Versuch ist strafbar." (§ 258 und § 258a StGB, Strafvereitelung [im Amt])

Doch wer sollte gegen die Behördenleitung ein Strafverfahren einleiten, diese selbst etwa?
Und kann für die nächsthöhere Ebene jene Korrektheit vorausgesetzt werden, die aus Sicht des "Darmstädter Echos" auf unteren Ebenen scheinbar mühe- und bedenkenlos missachtet wird?
Ebene für Ebene schwächt sich schließlich das Strafwürdige ab:
Steht am Anfang vielleicht das Delikt Strafvereitelung eines Kapitalverbrechens, so ist das Delikt auf der nächsten Ebene "nur" noch die Strafvereitelung einer Strafvereitelung.
Und wenn zu Beginn der Ermittlungseifer gehemmt sein mag, weil "nur" das Ansehen eines Kommunalpolitikers und seiner Familie auf dem Spiel steht, so kann der Ermittlungseifer auf der nächsten Ebene noch gehemmter sein, weil da schon das Ansehen der Institution Staatsanwaltschaft oder gar der Justiz als solcher auf dem Spiel steht.

Interessant ist übrigens der Absatz 6 des § 258 StGB:
"Wer die Tat zugunsten eines Angehörigen begeht, ist straffrei."
Ist es denkbar, dass sich die Angehörigen des öffentlichen Dienstes schon längst als Teil einer "Großen Familie" begreifen und diesen Absatz 6 entsprechend auslegen?
Jedenfalls erodieren solche Mechanismen den Rechtsstaat, machen ihn hohl und rauben ihm seine Glaubwürdigkeit.

Gleichheitsgebot

Jenes "Recht nach zweierlei Maß", von dem in den Prozessberichten des "Darmstädter Echos" mehrfach die Rede ist, bedeutet doch, dass ein elementares Gebot, das den Rechtsstaat vom Unrechtsstaat unterscheidet, außer Kraft gesetzt wird: Das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes, zugleich ein Grundrecht:

"Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." (Art. 3 GG).

Die Missachtung dieses Gleichheitsgebotes, soweit sie systematisch einer privilegierten Kaste politisch oder sonstwie einflussreicher Personen zugute kommt, verwandelt den Rechtsstaat im besseren Fall in ein korruptes, polit-feudales Gebilde, im schlimmsten Fall in ein staatsterroristisches Monstrum wie das "Dritte Reich", das ganze Bevölkerungsgruppen unter das Gesetz und unter den mörderischen Stiefel stellte - und die Mörder und Schinder darüber.

Warum soll die Lektion "Wehret den Anfängen!" nur kahl - und hohlköpfigen rechten Skinheads auf den Straßen gelten und nicht ebenso jenen Mechanismen in den Institutionen, die diese dienstbar auch für den Unrechtsstaat machen können?

Prof. Dr. Torsten Tristan Straub schreibt am 6. Oktober 2001 in der Süddeutschen Zeitung:

"Der deutsche Jurist ist das Produkt einer Ausbildung, die ihn so gesinnungstüchtig macht, dass er jedwedem Regime dienen kann und deshalb auch dessen Wechsel übersteht."

Eine Ironie am Rande: Jener 23-Jährige, aus dessen Pump Gun offenbar der tödliche Schuss fiel, der in Darmstadt als zweiter Angeklagter vor Gericht stand, sah sich nicht als Christ, aber als Jurist in spe.
Aus gutbürgerlichem Hause stammend, politisch mit den rechten Republikanern sympathisierend, fasziniert von Videos, in denen gemordet, gefoltert und vergewaltigt wird, wollte er nach seinem Abitur zwar nicht Theologie, aber immerhin und ausgerechnet Jura studieren.
Vielleicht weil sich ihm die Justiz nur als ein kaltes Instrument der Macht darstellte?
Als ein Spielfeld auch für Charaktere, die sich an der Macht über Menschen und Schicksale berauschen, Charaktere, die so die eigene, minderwertig empfundene Person erhöhen können?
Sein Pech war wohl, dass er diesen Rausch zunächst im Spiel mit Waffen gesucht hatte.

Groß & Klein

Der Mordprozess Kaffenberger war eine lange und desillusionierende Parabel über den Unterschied zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungsrealität - vor allem mit Blick auf den Artikel 3 des Grundgesetzes.
"Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen", weiß schon der Volksmund.
Dass zu den Grossen, die man in Deutschland (auf Bewährung) laufen lässt, bereits der kriminell gewordene Sohn eines Mittel-Mächtigen zählt, machte für einige der damaligen Prozessbeobachter in Darmstadt und Dieburg den besonderen Erkenntnisgewinn aus.
Die andere Erkenntnis war, dass sogar bei einem Kapitalverbrechen Polizei und Staatsanwaltschaft nicht allzu genau hinschauen, wenn oder weil Politik und Macht im Spiele sind.

"The Lonesome Death of Hattie Carroll" heißt ein früher Protestsong von Bob Dylan, es geht darin um einen authentischen Fall, der sich 1963 in Baltimore zugetragen hatte.
William Zanzinger, der 24 Jahre alte Sohn eines politisch einflussreichen Vaters, hatte auf einem Wohltätigkeitsball in besoffener Laune eine schwarze Kellnerin erschlagen, Hattie Carroll, 51, eine Mutter von 10 Kindern. Er kam mit einigen Monaten Gefängnis davon.

Irgendwie fühlt man sich an die 1997 und 1998 in Darmstadt und Dieburg verhandelten Prozesse gegen die 3 jungen Männer aus gutbürgerlichem Hause erinnert, liest oder hört man die letzte Strophe in Dylans Lied:

"Im ehrwürdigen Gerichtssaal schlug der Richter auf den Tisch,
Um zu zeigen, dass alle gleich sind, und dass Verlass ist auf das Gericht,
Und dass sich am Gesetz nichts deuteln und drehen lässt,
Und dass es selbst die Vornehmen nicht ungeschoren lässt,
Wenn sie die Polizei ertappt und vor den Kadi schickt,
Und dass es auf der Leiter des Gesetzes kein Oben und Unten gibt.
Er musterte den Menschen, der grundlos getötet hatte,
Von einem Augenblick zum anderen, nur weil ihm gerade danach war,
Und er saß da in seiner Robe und sprach sehr würdevoll
Und verkündete eine Strafe, die als Sühne gelten soll:
Sechs Monate für William Zanzinger.
Oh, doch ihr, die ihr von Schande redet und glaubt, das Richtige zu meinen,
Nehmt eure Taschentücher vors Gesicht,
Denn jetzt habt ihr allen Grund zum Weinen.
"

Kriminelle Abiturienten

Auf einem Waldparkplatz bei Weiterstadt kontrolliert im September 1996 eine Polizeistreife zufällig zwei junge Männer und deren Autos, eines trägt ein gestohlenes Kennzeichen.
Der Polizist findet einen Wagen vollgeladen mit Einbruchswerkzeugen - und er findet eine Maverick Pump Gun, die man bald darauf einem bis dahin nicht geklärten Mordfall zuordnen kann.
Gut ein Jahr zuvor, in der Nacht zum 29. Juli 1995, war der Heizungsmonteur Peter Wilhelm Kaffenberger in der Nähe von Dieburg im fahrenden Auto erschossen worden.

Doch es sind keine gewöhnlichen Kriminellen, die bei Weiterstadt gestellt wurden.
Die beiden jungen Männer haben nicht lange zuvor ihr Abitur abgelegt und kommen aus gutbürgerlichem Elternhaus.
Der Ältere kommt aus Babenhausen und will, man staunt oder staunt nicht, Jura studieren.
Der Jüngere kommt aus Dieburg und ist, man staunt noch mehr, der Sohn eines in Südhessen bekannten und hochrangigen Kommunalpolitikers.
Der Sohn auf kriminellen Abwegen, gar verwickelt in einen Mordfall?
Für den Vater eine menschliche Katastrophe, für den Politiker auch eine politische Katastrophe, ein wenig sogar für die Partei, die er erfolgreich repräsentiert.
Zumindest hinter vorgehaltener Hand könnten Fragen gestellt werden:
Welche moralischen Werte hat er dem Sohn vorgelebt, nicht nur vor, sondern auch hinter den familiären Kulissen?

Spätere Ermittlungen werden ergeben, dass der Sprössling an rund einem Dutzend Straftaten beteiligt war: wiederholte Diebstähle und Autoaufbrüche, ein versuchter, schwerer Raubüberfall, sogar Bomben wollte er bauen.
Mindestens 16 Monate lang hatten er, der mit ihm bei Weiterstadt Festgenommene und ein dritter Kumpan die Region stehlend und ballernd unsicher gemacht.
Haben die Familien, haben die Väter von all dem nie etwas mitbekommen?
Einmal stiehlt die Bande Computer-Zubehör im Wert von 35 000 DM. Fragt niemand, wie ein den Wehrdienst ableistender Sohn etwa zu teuren Cyber-Helmen kommt?

Die Wurzel des Mordes

Schlagzeile Bluttat

Die Schrotkugeln hatten die Kopfstütze durchschlagen und drangen in seinen Hinterkopf ein.
Peter Wilhelm Kaffenberger hatte keine Überlebenschance, sein kleiner Ford Fiesta raste am Abzweig der autobahnähnlich ausgebauten B26 zur B45 in die Leitplanke.
Es war zwischen 1:30 und 1:45 Samstag früh, eine warme Sommernacht. Der Täter, der von einem überholenden Fahrzeug aus auf Kaffenberger schoss, musste sicher gewesen sein, dass kein auf der zweispurigen Schnellstraße hinter ihm fahrendes Auto, schon gar nicht ein Polizeiwagen, den Anschlag mitverfolgen konnte.
Gab es neben dem Fahrer des Tatautos und dem Schützen einen Dritten, der in einigem Abstand hinterherfuhr und "freie Fahrt" bzw. "freien Schuss" signalisierte, per Handy oder Lichthupe?
Kein Augenzeuge wird die Polizei auf die Spur eines Täters bringen, sondern eine Patronenhülse, die in der Nähe des Tatorts gefunden wird.

Im März 1995, etwa vier Monate vor der Tat, fahren der junge Mann aus Dieburg und sein Freund aus Babenhausen nach Straßburg, um sich dort Waffen und Munition zu kaufen. Mit dabei ist noch ein Industriekaufmann aus Sickenhofen, er ist mit 19 Jahren der Jüngste im Trio.

Es ist der Sohn des Kommunalpolitikers, der die Idee zum Kauf der Waffen hatte und dazu in Straßburg eine Beschaffungsmöglichkeit ausfindig machte.
Jeder der drei jungen Männer nimmt aus Frankreich ein Schrotgewehr und Munition mit und schmuggelt es über die Grenze. Aus einer dieser in Straßburg gekauften Pump Guns stammt die Patronenhülse, die dann in der Nähe des Tatorts gefunden wurde.

Der Vorsitzende Richter im Mordprozess wird sich in seiner Urteilsbegründung am 27. Mai 1998 auf den Waffenkauf in Straßburg beziehen und darin die "Wurzel des Mordes" erkennen. Doch derjenige, der die "Wurzel des Mordes" personifiziert, der Ideengeber für den Kauf und Gebrauch der Waffen war, der die Beschaffungsmöglichkeit in Straßburg ausfindig machte, er wird in den monatelangen Ermittlungen, die dem Prozess vorausgehen, nicht einmal nach seinem Alibi für die Tatzeit gefragt werden, weder von der Kripo noch von der Staatsanwaltschaft.

Das falsche Alibi

Der Politikersohn wusste seine Waffe auch einzusetzen. Einige Wochen nach dem Mord schoss er mit seiner Pump Gun sechsmal auf eine Radarkamera. Er und der angehende Jura-Student waren nach dem versuchten Überfall auf eine Tankstelle in der Nähe von Hanau mit ihrem Wagen in die Radarfalle geraten und fotografiert worden. Fotografiert wurde auch das von einem Wohnmobil abgeschraubte Kennzeichen ihres Fahrzeugs.

In einer späteren polizeilichen Vernehmung sagt der Dieburger aus: Das Kennzeichen haben wir gestohlen. Handschriftlich notiert er, dies sei in Darmstadt geschehen - geschehen in der Mordnacht, kurz vor dem tödlichem Schuss auf den Heizungsmonteur.
Die Staatsanwaltschaft ist sich dieses Umstands bewusst, nur "wegen Geringfügigkeit" lässt sie später nämlich den Diebstahl des KFZ-Kennzeichens als Anklagepunkt gegen den Prominentensohn fallen. Ungeachtet dieses Umstands und anderer Umstände bleibt die Staatsanwaltschaft und die Soko in den Monaten vor dem Prozess ihrer Linie treu, den Dieburger mit dem Mord nicht in Verbindung zu bringen.
Zitat aus dem Darmstädter Echo vom 19. 8. 1997:

"Auffällig auch, dass ebenso all die Kriminalbeamten, die den Dieburger vernahmen, diesen nicht auf den Todesschuss auf der B26 ansprachen."

Insbesondere bedeutete dies, kein einziges Mal die Frage nach seinem Alibi zu stellen. (Was dem Leiter der ermittelnden Sonderkommission noch während des Prozesses angeblich nicht bewußt war). Das Darmstädter Echo schreibt dazu am 2. September 1997:

"Dass die Staatsanwaltschaft in der Erforschung dieses Alibis keinerlei Ermittlungseifer an den Tag legte, gehört zu den Auffälligkeiten im Verlauf des Kaffenberger-Prozesses."

Zu seinem Alibi wird der Politikersohn erstmals vorm Landgericht Darmstadt befragt, nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge, mehr als 2 Jahre nach der Tat.
Selbst wenn er am Mord nicht beteiligt war, weder direkt noch indirekt, er musste wissen, wo er in dieser denkwürdigen Nacht war und was er tat. Immerhin war "vor seiner Haustür" das geschehen, wovon die von Waffen und Gewaltvideos faszinierten Mitglieder der Bande bislang nur phantasiert hatten: "Pulp Fiction", ein richtiger Mord, verübt mit einer Waffe, die sie bei ihren sonstigen "coolen" Aktionen zumeist im Auto mitführten. Dazu Presseberichte, Polizeiaktionen, die Angst von Bürgern, auch sie könnten aus dem Hinterhalt beschossen werden.
In einem erstem Bericht über die "Bluttat auf der B26 bei Dieburg" schreibt das Darmstädter Echo am 31.7.1995:

"Außerdem interessieren sich die Kripobeamten, wer Personen kennt, die in letzter Zeit mit einer Schrotflinte 'angegeben, hantiert oder auf Verkehrsschilder geschossen haben.' "

Genau das tun der Dieburger und die beiden anderen seit dem von ihm selbst angeregten Kauf der Waffen in Straßburg: mit Schrotflinten angeben, hantieren und auf Verkehrsschilder schießen.
Selbstverständlich liest er solche Berichte und selbstverständlich wird er und muss er dabei an sich und seine zwei Kumpane denken.
Er, der "intellektuell Hochstehende", soll nicht involviert gewesen sein oder soll nicht von seinen zwei Komplizen die Wahrheit über diese Nacht erfahren haben? Eine absurde Vorstellung.
Seinen eigenen Aussagen zufolge war er schon in der Tatnacht über den Schuss auf der B26 informiert.
Wie er diese Information erhielt, kann er jedoch nicht glaubwürdig erklären. Und er nennt ein falsches Alibi.

Seiner von ihm (falsch) beeideten Aussage, er sei in der Tatnacht auf einer Fete gewesen und habe dort von "Unbekannten" über den Schuss und die Sperrung der Schnellstraße erfahren, wird von anderen Zeugen widersprochen.
Ein früherer Schulfreund aus Berlin kann durch Telefonate innerhalb von 2 Tagen recherchieren, dass die Angaben des Dieburgers zu seinem vorgeblichen Alibi unrichtig sind. Die Staatsanwältin, die der Berliner über dieses Ergebnis informieren will, ist - erstaunlicherweise - " nicht zu erreichen", so dass sie erst vor Gericht von der neuen Beweislage erfährt.

Mit seinen beiden Komplizen, der eine gab nach Auffassung des Gerichts aus dem Auto heraus den tödlichen Schuss ab, der andere steuerte das Fahrzeug, setzt der Sohn des Kommunalpolitikers auch nach dem Mord das kriminelle Treiben fort. Erst 13 Monate später wird er zufällig in Weiterstadt zusammen mit dem angehenden Jura-Studenten aus Babenhausen ertappt. Die Polizei findet im Auto der Festgenommenen die Tatwaffe.

Es gab ein Beweismittel, das eine mögliche Verwicklung auch des Dieburgers in den Mordfall - Anstiftung, Planung, Mittäterschaft oder Mitwisserschaft - belegen konnte. Es war der Computer des später als Mörder Verurteilten.

Die formatierte Festplatte

Die drei jungen Männer waren auch Computer-Freaks. Das Darmstädter Echo berichtet, wie der angehende Jura-Student vor Gericht "fast ins Schwärmen" kommt, wenn er von seiner Computer-Leidenschaft erzählt. Bis zu 10 Stunden am Tag habe er am PC gesessen.
Den als Todesschütze Mitangeklagten will er über das Hobby Computer kennengelernt haben. Auch dieser, der Jüngste, erklärt vor Gericht: "Meine Freundin ist der PC".
So galten die wiederholten Einbruchstouren vor allem einem Elektronik-Großmarkt.

Mit Sicherheit dürfte sich das Trio auch in der Zeit vom März 1995 bis zum September 1996 untereinander per eMail verständigt haben. Diese elektronischen Briefe, ob versandt oder empfangen, werden normalerweise im Computer gespeichert.
Was der dann als Mörder Verurteilte seiner "Freundin", dem Computer, alles anvertraute bzw. via Computer und eMail anderen Freunden anvertraute, war im Prozess nicht mehr zu ermitteln: Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft war die Festplatte dieses Computers vor dem Prozess formatiert worden, vollständig gelöscht. Ein wichtiges Beweismittel war damit vernichtet.

Dies erinnert an einen prominenteren Fall: Den von Max Strauß, in rechtlichen Schwierigkeiten steckender Sohn des verstorbenen Groß-Politikers Franz-Josef Strauß. Die Festplatte des Laptop von Max Strauß war vorsätzlich gelöscht worden, kurz bevor die Staatsanwaltschaft diesen inspizieren wollte.

Vor dem Landgericht Darmstadt erklärte ein Sachverständiger, dass nur mit zeitaufwendigen, teuren Methoden (Kosten: 90 000 DM bis 130 000 DM) die elektronischen Spuren rekonstruierbar seien, im Fall des Laptop von Max Strauß war das erstaunlicherweise viel billiger möglich, für nur 5000 DM.
Dass die rekonstruierte Festplatte von Max Strauß dann später verschwand, erklärte sich die bayerische SPD-Politikerin Renate Schmidt durch "Kriminelle Amtshilfe" mit der Absicht, den Politikersohn im Amigo-Land vor Unannehmlichkeiten zu bewahren.

Die Anordnung der Staatsanwaltschaft Darmstadt, den Computer des Hauptangeklagten vor dem Prozess zu formatieren, bewirkte womöglich, dass Indizien, die den Sohn des Kommunalpolitikers belasteten, vernichtet wurden.
Möglicherweise wurden damit aber auch Beweise vernichtet, die den Hauptangeklagten entlastet hätten.
So behauptete dieser später, er habe zur Tatzeit an seinem Computer gesessen und sich dabei in eine Mailbox in Reinheim eingewählt. Ohne Formatierung wäre zumindest überprüfbar gewesen, ob der Computer zur Tatzeit eingeschaltet war, ob und welche Dateien verändert wurden.

Aus nächster Nähe

Zu einem Zeitpunkt, als noch keine (Kommunal-) Politik und keine Söhne aus gutbürgerlichem Hause im Spiel sind, 3 Tage nach der Bluttat auf der B26, lässt die (Kriminal-) Polizei mitteilen, dass der tödliche Schuss "aus nächster Nähe" erfolgte. So schreibt das Darmstädter Echo am 31. Juli 1995 unter dem Bild des verunglückten Ford Fiesta:

Bildunterschrift Nächste Nähe

" ... Der schwerverletzte Fahrer wurde in die Universitätsklinik Gießen gebracht. Dort erlag der Mann einer Schussverletzung, die ihm vor dem Unfall aus einer Schrotflinte aus nächster Nähe beigebracht worden sein muß, so teilt die Polizei mit."

Was geschehen "sein muß", ein Schuss nicht nur aus großer Nähe, sondern "aus nächster Nähe", das durfte später nicht mehr geschehen sein.
Das Beweisstück, das eine Aussage über diese "nächste Nähe" machen konnte, wurde vernichtet, eine Probe des Gerichtsmediziners am Schädel des Toten. So berichtet das Darmstädter Echo am 30.9.1997 über die am vorangegangenen Prozesstag erfolgte Anhörung eines Sachverständigen vom Landeskriminalamt:

"Ein Mediziner, der den Toten obduzierte, glaubte an dessen Schädel Schmauchspuren entdeckt zu haben, sandte eine Probe ans LKA. Doch diese wurde, ebenso wie etliche andere Beweisstücke, nicht untersucht, sondern vielmehr vor einiger Zeit vernichtet. 'Aus Platzmangel' so der LKA-Beamte."

Und am 11. Oktober 1997 zitiert das Darmstädter Echo, wie die Staatsanwältin diesen ungewöhnlichen Umgang mit Beweismitteln begründet:

"Es bestand für mich kein Anlaß, mögliche Schmauchspuren am Kopf des Getöteten untersuchen, oder diese Beweismittel aufheben zu lassen.... Das war mir nicht wichtig."

Nachdem mit bemerkenswerter Begründung diese Beweismittel vernichtet worden waren, konnte nun auch das in Abrede gestellt werden, was doch laut ursprünglicher Mitteilung der Polizei geschehen "sein muss": Die "nächste Nähe", aus welcher der tödliche Schuss erfolgte. Aus der nächsten Nähe wird später ein Abstand von etwa 5 bis 6 Metern.

Auch sonstige Umstände des tödlichen Schusses will man später anscheinend nicht mehr so genau wissen. Reinhard Jörs schreibt am 9. August 1997 zum Gutachten eines Waffenexperten, das "zwar lang aber nicht ebenso ergiebig gewesen sei":

"So wurden wichtige Schießproben nicht vorgenommen, weil angeblich die richtige Munition ausgegangen, eine bestimmte Autoscheibe nicht erhältlich war."

Was wie technische oder gerichtsmedizinsche Haarspalterei anmutet, die der Staatsanwältin "nicht wichtig" ist, ist in Wahrheit urteilsentscheidend.
Insbesondere für den Juristen in spe, der behauptet das Tatauto gefahren zu haben, entscheiden die vernichteten Beweismittel über nicht mehr und nicht weniger als Verurteilung wegen Mordes oder Freispruch vom Mordverdacht.
Wenn der Schuss, wie anfangs definitiv von der Polizei behauptet, "aus nächster Nähe" erfolgte, so musste das Tatauto in Schussposition gebracht worden sein. Dann wussten beide, der Fahrer und der Schütze, was sie taten und wollten, dann war es ein von beiden geplanter und ausgeführter Mord - und kein unglücklicher "Zufall" und keine "Überraschung".
Dann stand aufgrund der vernichteten Beweismittel nicht nur eine Strafvereitelung für den Prominentensohn zur Debatte, sondern auch eine Strafvereitelung für den angehenden Jurastudenten - Strafvereitelungen im Amt und Strafvereitelungen für Schwerverbrechen und Kapitalverbrechen.

Theater?

Aber hatte die Staatsanwaltschaft nicht für den (vorgeblichen) Fahrer des Tatautos die Höchststrafe gefordert, lebenslang? Hatte sie nicht selbst behauptet, er habe das Auto in Schussposition gebracht und den anderen zum Schuss animiert?
Ja, sie hatte es getan, so wie sie vorgeblich auch 3 Jahre Gefängnis für den Dieburger gefordert hatte - während sie tatsächlich darauf hinwirkte, ihre eigene Forderung nicht Wirklichkeit werden zu lassen.
Zuletzt, in dem sie ihre Berufung gegen das "nicht tat- oder schuldangemessene" Urteil zurückzog - mit einer Begründung, die das Darmstädter Echo als "fadenscheinig" bezeichnete.
Ist es daher denkbar, dass auch die Forderung "lebenslang" für ihren "Kronzeugen" und verhinderten, zukünftigen Jura-Kollegen nur eine vorgebliche war, eine Forderung, die sie selbst wissentlich hintertrieb? So dass in diesem Fall der Freispruch vom Vorwurf der Mittäterschaft am Mord nicht etwa "eine Ohrfeige an die Staatsanwältin" (DE, 28.5.1998) war, sondern genau das, was auch sie selbst wollte - nur dass man das so offen einer kritischen Öffentlichkeit neben der Vorzugsbehandlung für den Prominentensohn nicht auch noch "verkaufen" konnte.
Konnte man die Staatsanwältin in dieser Sache ernst nehmen? Ernst zu nehmen waren jedenfalls die vernichteten Beweismittel, die einen Schuss aus nächster Nähe und damit einen Vorsatz auch des Kronzeugen nahegelegt hatten.
Ernst zu nehmen war die zurückgezogene Berufung gegen das so milde Urteil in Dieburg.
Ernst zu nehmen war auch die unterlassene Revision gegen das Urteil in Darmstadt, das den "Kronzeugen" von der Mittäterschaft am Mord freisprach.

Denkbarkeiten, die sich aus solchen Szenarien ergeben, nennt der Gerichtsreporter Jörs "alleiniges Verdienst einer völlig unzureichenden Leistung der Ermittlungsbehörde." (DE, 28.5.1998)

Bitterer sieht solche und ähnliche Vorgänge Roland Exner in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung vom 8. August 2001:

"Das System kann erleben, wer - zum Beispiel als Gerichtsreporter - ein paar hundert Verfahren beobachtet...Man sieht die vielen kleinen Sünder vor Gericht - und irgendwann fragt man sich: Wo sind die großen? Dann wird klar: Gerichtsverhandlungen sind Theaterveranstaltungen, mit fest verteilten Rollen und Riten, die einem Zweck dienen: die Illusion einer Rechtsordnung zu erzeugen, um hinter dieser Fassade den Parteifreunden und allen, die sonst noch dazugehören, ungestörte Spielfelder für Intrigen und Geschäfte zu schaffen. Die eingespielten Rollen und Riten und das Drohen mit Machtmitteln bewirken, dass alles wie geschmiert läuft, und alles normal und gesetzestreu erscheint...."

Das falsche Geständnis

Die zufällige Kontrolle des Dieburgers und seines Komplizen im September 1996 bei Weiterstadt und die dabei gefundene Tatwaffe führten dazu, dass ein anderer Mann wieder auf freien Fuß kam.
Dieser, ein 23 Jahre alter Mann aus dem Aschaffenburger Raum, aufgewachsen in den USA, wurde bis dahin von Staatsanwaltschaft und Polizei für den Mord an Kaffenberger verantwortlich gemacht. Im September 1996 saß er schon seit mehr als 6 Monaten in Untersuchungshaft.

Ein Jahr später vor dem Landgericht als Zeuge angehört, beschuldigte er die Sonderkommission der Kriminalpolizei, ihn mit üblen Methoden zu einem falschen Geständnis gebracht zu haben. Zitat aus dem Darmstädter Echo vom 23.8.1997:

"Selbst nach eindringlicher Warnung des Vorsitzenden Richters, dass er durch Anschuldigungen gegen Polizeibeamte sich der Gefahr von Anzeigen aussetzen könnte, schilderte der Familienvater die für ihn schlimmen Erlebnisse aus seiner Sicht. Träfe seine Darstellung zu, hätten mehrere Polizeibeamte mehrfach erheblich gegen Vorschriften verstoßen."

Seine Vorwürfe an die Kripo gipfelten in dem Satz: "Das war die Hölle."
Er sei angeschrieen worden und man habe Beweismittel vorgetäuscht. Nachdem er mehrere Tage kaum geschlafen und gegessen habe, sei er während einer Vernehmung sogar gewürgt worden. In dieser Verfassung habe man ihn dazu gebracht, sich und andere fälschlich des Mordes an Kaffenberger zu bezichtigen: "
Ich wollte nur, dass es vorbei ist.
" Der Kripo sei bewusst gewesen, dass er Deutsch kaum lesen und schreiben konnte, dennoch sei ihm seine (falsche) Zeugenaussage zur Unterschrift vorgelegt worden. Ohne zu wissen, was dort stand, habe er schließlich unterzeichnet.
Zitat aus dem Darmstädter Echo:

"Noch nie in seinem Leben habe er solche Angst gehabt wie vor diesen Kripobeamten, schrieb der verzweifelte Mann damals aus der Zelle seiner Frau. "

Einen Brief seiner Frau, in dem sie ihm einen Anwalt nannte, habe er nie erhalten. Auch sein eigener, immer wieder vorgetragene Wunsch nach einem Anwalt sei lange Zeit ignoriert worden, auch von dem Haftrichter, dem er vorgeführt wurde.
"Ich habe seit der Zeit, als ich sechs Monate unschuldig in Haft saß, kein Vertrauen mehr in die Justiz", hatte der Mann zuvor schon gesagt.
Nach dem Schlußsatz des Gerichtsreporters zu seiner Anhörung wird dieses Vertrauen auch kaum wiederkehren:

"In zwei Instanzen wurde ihm zwischenzeitlich eine Haftentschädigung verwehrt, da er mit seinem Geständnis erheblichen Eigenanteil an seiner U-Haft geliefert habe."

Das richtige Geständnis?

Die gleichen Polizeibeamten, die zuvor einem Unschuldigen ein falsches Geständnis abgerungen hatten, rangen auch dem zuletzt als Mörder verurteilten Industriekaufmann sein anfängliches Geständnis ab. Er wird es später widerrufen und als Resultat des auf ihn ausgeübten psychischen Drucks erklären.

Nur sein Kumpan, der Jurist in spe, aus seiner Waffe stammte die in Tatortnähe gefundene Patronenhülse, wird durchgängig seine Version des Tatgeschehens behaupten: Demnach habe er das Auto gesteuert, während der Jüngere, für ihn angeblich ganz überraschend, auf den vor ihnen fahrenden Kaffenberger geschossen habe.
Er "meine", insofern bei der Tatausführung beteiligt gewesen zu sein.

Soweit beide einräumen oder einräumten "beteiligt" gewesen zu sein, müssen sie doch beide versuchen, jede Absicht, jeden Vorsatz, jede Planung zu leugnen.
Im Rahmen dieser Verteidigungsstrategie bleibt der Dritte, der Dieburger, draußen vor, jedenfalls außerhalb des Autos, aus dem der Schuss fiel.

Angenommen, der Dieburger hätte den Mord angestiftet, angenommen, er hätte ihn mit den beiden anderen zusammen geplant, angenommen, er wäre ihnen hinterhergefahren, um die Strecke nach hinten abzusichern und vor möglichen Tatzeugen zu warnen - derartiges konnten die beiden in Darmstadt Angeklagten dem Dritten nicht vorwerfen, ohne sich dabei selbst noch schwerer zu belasten.

Viele Ungereimtheiten, die während der Prozesse deutlich wurden, lassen aber ein Tatgeschehen vermuten, in welchem der Dieburger eine solche mitwirkende Rolle spielte: sein fehlendes Alibi, seine seltsam erlangte Kenntnis der Tat noch in der späten Tatnacht, seine offenbare Beteiligung am Diebstahl eines KFZ-Kennzeichens in Darmstadt kurz zuvor, seine Rolle als Ideengeber und Planer, schließlich eine Motivation, die ihn auch Bomben basteln ließ: Zerstörungslust.

Konnte es für die beiden in Darmstadt Angeklagten weitere Gründe geben, den Dritten bei der Mordtat "draußen vor" zu lassen?
Was war, wenn dieser mit der Macht und dem Einfluss seines Vaters drohte oder lockte, was war, wenn er die beiden anderen mit weiteren Straftaten belasten konnte, wenn er sie in der Hand hatte?
Was war, wenn er Beweisstücke besaß, etwa eMails, die zwar auch ihn belasteten, aber noch mehr die zwei Komplizen?

Der Vorsitzende Richter am LG Darmstadt wird in seiner späteren Urteilsbegründung behaupten, es sei "absurd", sich eine Beteiligung des "Dritten" am Mord vorzustellen.
Doch gleichzeitig erkennt er die "Wurzel des Mordes" im Kauf der Waffen, die doch gerade jener Dritte beschaffen half.
War es nicht weit mehr "absurd", einen tatsächlich unschuldigen "Vierten" zu einem falschen Geständnis zu bringen und 6 Monate lang in U-Haft zu halten?

Der Jurist, der aus Sicht der Staatsanwaltschaft die umfassendsten Informationen über das Tatgeschehen in der Mordnacht haben konnte, war der Strafverteidiger des als Mörder Angeklagten. Geschützt durch die anwaltliche Schweigepflicht konnte der Angeklagte seinem Verteidiger alles anvertrauen, auch das, was Planung und Vorsatz belegen würde, also auch eine mögliche Anstiftung und Mitplanung des laut Staatsanwaltschaft "intellektuell hochstehenden" Dieburgers.
Und für eben diesen vielwissenden Strafverteidiger "stand fest, dass der Dieburger, der kein Alibi hat, an der Tötung beteiligt war. " (DE, 11.4.1998)
Sollte er, der Jurist, lügen? Sollte er wirklich wider besseres Wissen einen am Mord Unbeteiligten als Beteiligten hinstellen? Schließlich war ein solches Argument nicht einmal geeignet, seinen eigenen Mandanten zu entlasten.

Geschlossenes Auftreten

Während einem Unschuldigen - wie auch immer - ein falsches Geständnis abgerungen wurde, unterließen es später Polizei und Staatsanwaltschaft den Politikersohn auch nur nach seinem (fehlenden) Alibi zu befragen - obwohl er und sein Freund bei der Routinekontrolle mit der Tatwaffe angetroffen wurden.

Doch die ihm gewährte Vorzugsbehandlung erschöpfte sich darin nicht. Während dem sich als unschuldig erweisenden Mann aus dem Aschaffenburger Raum nach dessen Aussage über eine Woche widerrechtlich ein Anwalt verweigert wurde, durfte der Dieburger bei seiner Vernehmung neben dem Anwalt auch noch seinen (lokal) mächtigen Vater hinzunehmen. Zitat aus dem Darmstädter Echo vom 19. August 1997:

"Die Verwunderung im Gericht nahm noch zu, als weitere Details über die Umstände der Vernehmung des Dieburgers bekannt wurden. So sei bei dem Dieburger nicht nur sofort ein Anwalt zur Stelle gewesen. Auch der Vater des Volljährigen war beim ersten Verhör gleich dabei. Dies sei in anderen Fällen nicht üblich, räumte der Leiter der Sonderkommission ein."

Doch scheint das "nicht übliche" in diesem Fall - oder in Fällen wie diesem - das Übliche zu sein. Zitat aus dem Darmstädter Echo:

"Um so größer war das Erstaunen, als in der nächsten Gerichtssitzung erwähnt wurde, dass auch bei dieser zweiten Vernehmung der Vater zugegen gewesen sei. 'Das hätte ich nicht zugelassen', räumte selbst der Soko-Chef ein."

Dabei hatte der Richter eigens eine bis dahin nicht beteiligte Kripoabteilung mit der Vernehmung beauftragt. Aber was hilft das schon gegen ein "geschlossenes Auftreten der drei Personen", des Kommunalpolitikers, seines kriminell gewordenen Sohnes und seines Anwalts? Und weil sie so "geschlossen" auftreten, wagen die Polizisten nicht, den Vater auszuschließen, d.h. man sieht keinen Grund dazu.
Der Vater sitzt bei der Vernehmung ja nur still daneben und nimmt auch sonst keinen Einfluss.
Warum aber ist es ihm oder seinem Sohn dann so wichtig, dabei zu sein? Genügt nicht der Anwalt? Ist es vielleicht die stumm beredte Aura der Macht, der väterlichen und der politischen, die den Sohn und seine Vernehmer erinnern soll, die Zunge zu hüten? Keine prekären Antworten, keine prekären Fragen?
Wenn nicht einmal gewagt wird, den Herrn Vater und Politiker vor die Tür zu bitten, wer wird da noch wagen, unbequem zu ermitteln?

Immerhin: Die dreiste Unüblichkeit dieser Vernehmungen macht deutlich, dass mit dem Kommunalpolitiker auch stumm Politik im Spiele ist.

Der Wortführer

"Sohn wohlhabender Eltern, die ihn verwöhnen und schützen,
Und mit Verwandten, die in Maryland in hohen Ämtern sitzen,
Hatte für seine Tat nur ein Schulterzucken übrig.
"
(The Lonesome Death of Hattie Carroll, Bob Dylan)

Das Sündenregister des Prominenten-Sprösslings war beeindruckend: Er war es, der die Idee zum Kauf der Pump Guns hatte und insofern auch die später am LG Darmstadt genannte "Wurzel des Mordes" personifizierte, er war es auch, der die Waffen beschaffen half.
Schon in der denkwürdige Nacht, in der Kaffenberger ermordet wird, ist er über das Geschehen informiert wie ein Mitwirkender, sein vorgebliches "Alibi" wird von glaubwürdigeren Zeugen widerlegt.
Offenbar war er kurz vor dem Mord mit (dem/den) Komplizen in Darmstadt und stahl von einem Wohnmobil in der Emilstrasse ein KFZ-Kennzeichen, das vielleicht schon für das Tatauto (und für die Tat) verwendet werden sollte.
Er ist es auch, der nach dem gescheiterten Überfall auf eine Tankstelle sechsmal auf eine Radarkamera feuert, die das Auto mit dem in Darmstadt gestohlenen Kennzeichen fotografierte.

Unbeeindruckt von dem Mord setzt er mit den beiden Komplizen das kriminelle Treiben noch mehr als ein Jahr fort, bis zu seiner Festnahme - und er muss wissen, mit wem er unterwegs ist und mit welcher Waffe sie unterwegs sind. Er wird auch wissen, dass für den tödlichen Schuss aus dieser Waffe zwei Unschuldige in Untersuchungshaft sitzen.

Von seinen beiden Komplizen wird er als Kopf der Bande gesehen. Aber nicht nur von ihnen, am 5. August 1997 schreibt das Darmstädter Echo:

"Der Polizeibeamte beschrieb den Dieburger als eindeutigen Wortführer, ein Eindruck, der sich bei dessen Vernehmung in der Hauptverhandlung weitgehend bestätigt hat."

Am 30.7.1997 ist in der südhessischen Tageszeitung zu lesen, dass "der junge Dieburger" - nach eigener Darstellung - zu "dem kriminellen Treiben des Trios ... maßgeblich als Ideenlieferant und Planer beitrug. ... Er 'wollte Bomben bauen, die Herstellung ist mir durchaus bekannt', sagte er im Brustton der Überzeugung. Die Aussage machte er, als es um die Hintergründe bei einem Diebstahl von Gasflaschen ging."

Am 7. November 1997 schildert Reinhard Jörs wie der Politikersohn von seinem Komplizen dargestellt wird:

"... der Kopf der Bande ....(habe) sogar konkrete Pläne zum Einsatz von Bomben entwickelt.. So sollte eine Scheune in die Luft gesprengt werden. Auch Felder habe er abbrennen wollen. Ja, er habe sogar in seinem Beisein einen Sprengstoffversuch unternommen."

Der kurze Prozess

Was nun sind die rechtlichen Konsequenzen für diesen 22-Jährigen, dessen Verantwortung für mindestens 12 zum Teil schwere Straftaten (u.a. schwere Diebstähle und versuchter, schwerer Raub) zweifelsfrei ist?

In summarischer Kürze:

  • 4 Wochen Untersuchungshaft (5 Monate weniger als ein gänzlich Unschuldiger zuvor absitzen musste)
  • Ein 3-stündiger Prozess am Jugendschöffengericht seiner Heimatstadt.
  • Eine Bewährungsstrafe und 400 Stunden gemeinnützige Arbeit.

Als im Mai 1998 nach 10 Monaten der Prozess gegen seine beiden Kumpane am Landgericht Darmstadt endet, der jüngste der Bande wird dort wegen Mordes zu 7 Jahren Haft verurteilt, ist der vermutliche Kopf der Bande längst wieder auf freiem Fuß und Student im ersten Semester.

Möglich wurde dieses juristische Kunststück u.a. durch folgende juristische Kunstgriffe:

  • Das Verfahren gegen den Wortführer der Bande wird vom Verfahren gegen die zwei anderen aus vorgeblich "prozessökonomischen Gründen" abgetrennt.
    Über den Prominentensohn wird am Amtsgericht seiner Heimatstadt Dieburg verhandelt. Gegen die beiden anderen wird dagegen vor dem Landgericht Darmstadt verhandelt.

  • Zeugen werden während des Kurz-Prozesses in Dieburg am 3. September 1997 nicht angehört, nicht ein einziger, nicht einmal seine beiden Komplizen.

  • Die "Ernsthaftigkeit" ihrer Anklage und des Prozesses unterstreicht die Staatsanwältin u.a. dadurch, dass sie "Teile der Akten gar nicht erst mitgenommen" hatte. (DE, 2.7.1998). So sind relevante Vernehmungsprotokolle für sie "nicht greifbar".
  • Der Richter entdeckt bei dem angeklagten Dieburger einen "gewissen Eindruck von Reue", was "strafmildernd" zu sehen sei.
    Dabei ist dem Richter bekannt und bewusst, wie sich der "kleine Sünder" kurz zuvor beim Landgericht zeigte, auch dem Gerichtsreporter:
    "Beinahe prahlend präsentierte er sich als Zeuge am Anfang der Verhandlung."
    Und kurz nach dem Kurz-Prozess als Angeklagter in Dieburg zitiert der Gerichtsreporter in Darmstadt den reuigen Zeugen mit diesen Worten:
    "Studienplatz, Therapieplatz, und der ganze Quatsch" - Es war die Antwort, auf die ihm gestellte Frage nach seiner Zukunft.
    Das "Auftreten" des auf freien Fuß Gesetzten beschreibt Reinhard Jörs am 30.9.97 so:
    "selbstsicher statt kleinlaut, gereizt statt reumütig."


  • Wenn das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes für einen besonders gleichen Politikersohn so gleichnishaft ausgelegt wird, könnte nur noch ein weiteres Grundrecht stören, diesmal der Artikel 5 des Grundgesetzes zur Meinungs- und Pressefreiheit:
    "Amtsrichter Thomas Roth hatte Presseberichte scharf gerügt... Der Richter behielt sich auf Grund der Veröffentlichung eine Strafanzeige wegen übler Nachrede vor", schreibt Reinhard Jörs am 4.9.1997 über auch ihm selbst drohende rechtliche Schritte, sollte er in dieser Sache die so gut vorhersagbare Rechtspraxis der Justiz allzu deutlich benennen.
    Eine Drohung, die ernst zu nehmen ist. Wenn vielleicht schon einem Kriminellen wegen besonderer Beziehungen Sonderrechte gewährt werden, welche Sondervorteile könnte erst ein womöglich strafvereitelnder Jurist von Seiten seiner Kollegen erhoffen - und welche Sondernachteile ein auf Rechtstaatlichkeit beharrender Journalist?

Zum Vergleich: Noch ein Prozess und noch ein Urteil

Im Internet-Forum von Juramail.de gab es im November 2000 eine Diskussion zu einem in der jüngeren deutschen Geschichte notorischen Thema: Ist die Justiz auf dem brauen Auge blind?
In einem Beitrag vom 27.11.2000 vergleicht Alexander Kleinjung zwei Fälle und zwei Urteile.

Ein Fall machte große Schlagzeilen, die Frankfurter Rundschau führt ihn in ihrer "Bilanz rechtsextremistischer Gewalt" auf:
Am 31. Januar 1992 verübten 3 Jugendliche einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Lampertheim an der Bergstraße. Eine 3-köpfige Familie aus Sri Lanka wurde dabei ausgelöscht.

Nachfolgend wird der vollständige Diskussionsbeitrag von Alexander Kleinjung als dessen Meinung zitiert.
Soweit sich jedoch Vergleiche zum "Kurzen Prozess" und zum "Urteil von Dieburg" aufdrängen, sowie Schlussfolgerungen über die Verfassung der deutschen Justiz, ist dies durchaus gewünscht. (Links und Hervorhebungen stammen vom Verfasser.)


juramail - Forum

Re: Auf dem braunen Auge blind?

Geschrieben von: Alex Kleinjung <post@alexander-kleinjung.de> (217.3.84.158)
Datum: 27.11.2000 15:36
Antwort auf: Auf dem braunen Auge blind? (F.Heyer)

Hallo Friedhelm,

>Eine dreiköpfige Familie aus Sri Lanka stirbt am 31. Januar 1992 in ihrer brennenden Flüchtlingsunterkunft in Lampertheim/Bergstraße. Im Herbst 1992 werden drei Jugendliche festgenommen, die den Brandanschlag gestehen. 1994 werden sie wegen besonders schwerer Brandstiftung vom Landgericht Darmstadt zu viereinhalb bis fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sieht keinen ausländerfeindlichen Hintergrund.<

Ich kann mich gerade an diesen Fall noch gut erinnern, weil ich in einer Nach bargemeinde von Lampertheim (5km entfernt) gross geworden bin.

Nachzutragen wäre, dass das selbe Landgericht Darmstadt im März 1999 einen durch das Bundesamt für den Zivildienst (BAZ) zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig als nicht-zivildienstfähig erkannten Dienstflüchtigen gem. § 56 ZDG zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt hat und die Bewährung mit dem Hinweis auf die "Verteidigung der Rechtsordnung" gem. § 56 III StGB versagt hatte.

[Besonders pikant: sowohl in der Hauptverhandlung als auch in den schriftlichen Urteilsgründen lässt sich die Strafkammer darüber aus, dass es nicht angehen könne, während eines laufenden Strafverfahrens einen Angeklagten auszumustern und äussert das blanke Unverständnis über die Entscheidung des BAZ. Zugleich erklärten Gericht und Staatsanwaltschaft unisono, es sei nicht Sache des Angeklagten, bestandskräftige Entscheidungen des BAZ zu hinterfragen, sondern diese umzusetzen. Quod licet Jovi...?]

Mal abwarten, wie das gerade vor dem LG Darmstadt anhängige Verfahren gegen die Kids ausgehen wird, die im März diesen Jahres von einer Fussgängerbrücke über der B3 zwischen Pfungtadt und Darmstadt Steine geworfen und im Abstand weniger Minuten zwei Autofahrer getötet hatten...

Sehr nachdenkliche Grüsse
Alex Kleinjung

Lügen & Strafen

Eine Frage der Psychologie ist es, ob sich durch ihre "nicht üblichen" Vorgehensweisen, die den Rechtsstaat auf das äußerste strapazieren, bei den involvierten Beamten das Gewissen regt.
Eine Frage von Diplomatie und Politik ist es, wie dem verheerenden Eindruck entgegengewirkt wird, den solche Vorgänge bei einer wachen Öffentlichkeit hinterlassen könnten.

Eine Möglichkeit war bereits zweifach genannt worden, die Peitsche gewissermaßen, die Androhung einer "Strafanzeige wegen übler Nachrede"
Sie hört und spürt der Journalist, wenn er etwa mit prophetischer Gabe ein "nicht tat- oder schuldangemessenes" Urteil für einen Schuldigen vorhersagt:
"Der Richter hatte zu Beginn der Verhandlung den Verdacht weit von sich gewiesen, dass das Urteil schon von vornherein feststehe - und mit einer Strafanzeige gegen diese Zeitung wegen übler Nachrede gedroht. Die Anzeige blieb aus, das Urteil kam wie vorausgesagt." (DE, 2.7.1998)
Was auch immer wahr ist, ein Richter muss sich dagegen verwahren, ein gotterbärmlicher Büttel zu sein, brauchbar für jede Obrigkeit und das jeweils Opportune.

Die drohende Strafanzeige vernimmt am 22. 8. 1997 vorm Landgericht Darmstadt auch jener junge Mann, der unschuldig in U-Haft einsaß, nicht nur ganze 4 Wochen wie der vielfach schuldige Prominentensohn, sondern mehr als 6 Monate.
Aber "selbst nach eindringlicher Warnung des Vorsitzenden Richters, dass er ...sich der Gefahr von Anzeigen aussetzen könnte", will der benennen, wie man ihn - den Unschuldigen - zu einem falschen Geständnis brachte.

Für den, der das Vertrauen in die Justiz verlor und dies offen ausspricht, ist die Drohung mit Strafanzeige gleichwohl wirkungsvoll. Entscheidet über seine "Schuld" oder "Unschuld" doch wiederum jene Institution, in die er das Vertrauen ja verlor, die seiner Erfahrung nach den Schuldigen zu entschuldigen weiß und den Unschuldigen zu beschuldigen weiß. Er, dem das Vertrauen abhanden kam, vermutet in den schwarzen Roben nur noch kalte Krähen, die der eigenen Gattung aber nicht dem Gesetz dienen.

Die "Berufung"

Nun aber zur zweiten Möglichkeit, einen lästerlichen Mund " Lügen zu strafen." Zitiert sei dazu wiederum das Darmstädter Echo (2.7.1998) und sein mutiger Gerichtsreporter:
Da war eine staatsanwaltliche Aktion unmittelbar nach dem sehr milden Urteil in Dieburg "angetan all jene Lügen zu strafen, die da im Vorfeld munkelten: Es gebe eine Absprache, wonach der Angeklagte, Sohn des..., in seiner Heimatstadt nicht ins Gefängnis geschickt werde." Die Aktion nannte sich "Berufung" gegen das "nicht tat- oder schuldangemessene" Urteil des Dieburger Schöffengerichts. Sie war dazu angetan, die Gemüter zu beruhigen, das Zuckerbrot gewissermaßen für diejenigen, die durch das bisheriger Vorgehen der Justiz den Rechtsstaat desavouiert sahen.

"Sehr her, wie in Darmstadt der Richter die Staatsanwaltschaft für die dem Politikersohn gewährten Sonderrechte kritisierte, so widerspricht nun in Dieburg die Staatsanwaltschaft dem Richter für das dem Politikersohn gewährte sonderbar milde Urteil! Haben wir nicht ein perfektes Rechtssystem, ist unsere Justiz nicht vorbildlich unabhängig!"

Nur der Skeptiker mag sich schon gleich gefragt haben: Nanu? Will die Staatsanwaltschaft ernsthaft den Prominentensohn doch noch dorthin bringen, wo sie ihn durch die umstrittene Verfahrensabtrennung zuvor eben nicht hinbrachte: Vor das Landgericht Darmstadt?
Will die Staatsanwaltschaft Darmstadt ernsthaft durch einen neuen Prozess nochmals Staub aufwirbeln und dabei erneut die eigenen "Fehlleistungen " ins Blickfeld rücken?
Will die Staatsanwaltschaft Darmstadt ernsthaft ein härteres Urteil für den besonderen Sohn aus dem besonderen Haus, wo sie zuvor so viel tat und so viel unterließ und dabei dem milden Urteil den Weg ebnete? Ist es womöglich nur ein nicht ernst gemeinter Winkelzug, wie er für manche Kollegen aus dem gleichen Fach üblich ist, ein Winkelzug wie von einem Winkeladvokaten?
Und wäre es ein Winkelzug, ist es dann nicht auch eine Lüge, eine falsche Behauptung, die von ihrer Rücknahme schon im Voraus weiß?
Was von der Behauptung, was von der Berufung zu halten ist, deutet sich 5 Monate später an.
Auch hierzu sei das Darmstädter Echo (13.2.1998) zitiert:

"Die Begründung der Berufung ging bislang nicht beim Landgericht ein. Alle Unterlagen liegen bei der Staatsanwaltschaft - seit Monaten....Wie lange diese staatsanwaltliche Hängepartie andauern wird, wusste die Behörde in Darmstadt nicht zu beantworten. Das Verfahren sei 'n i c h t   b e s o n d e r s   d r i n g e n d' ."

April, April, Mai, Juni, Juli - Der Rückzug

Die "staatsanwaltliche Hängepartie" ging weiter, zunächst einmal ergeht etwa 14 Wochen später, am 27. Mai 1998, am Landgericht Darmstadt das Urteil gegen die beiden Komplizen des Dieburgers. Danach vergehen nochmals etwa 5 Wochen bis schließlich die Staatsanwaltschaft Anfang Juli 1998 eine Entscheidung bekannt gibt, die nun sicher kein "Zufall" und keine "Panne" ist, die diesen "Zufällen" und "Pannen" aber erst richtigen Sinn verleiht:

"Zehn Monate nach dem Richterspruch gegen einen 23 Jahre alten Dieburger, gegen den die Staatsanwaltschaft Darmstadt damals Berufung einlegte, hat die Behörde nun ihren Antrag zurückgezogen....Der Dieburger muss nicht ins Gefängnis."

Nicht zum Inhalt, sondern zum Modus der Entscheidung: Ist es ein Zufall, dass diese Entscheidung erst nach dem Ende des anderen Prozesses ergeht?
Ist es ein Zufall, dass eine "Anstandsfrist" von 5 Wochen gewahrt wurde, innerhalb derer Emotionen und Aufmerksamkeit erwartungsgemäß zurückgehen?
Ist es ein Zufall, dass man die Sommer- bzw. Urlaubszeit für die Bekanntgabe der umstrittenen Entscheidung wählte?

Angenommen, die "Berufung" war von Anfang an ein Bluff, gedacht nur für die kritischen Gemüter, angenommen ihre Rücknahme stand von Anfang an fest, so wie für einige Prozessbeobachter auch das Urteil in Dieburg schon von vornherein feststand, angenommen also, eine Behörde, die einigen Hunderttausend Bürgern Rechtssicherheit garantieren soll, trickst und blufft ganz so wie einige von ihr Angeklagten - welches Vertrauen könnte sie dann noch beanspruchen?

"Man habe die Strafen im Mordverfahren Kaffenberger mit der Strafe des Amtsgerichtes verglichen und sei zu der Überzeugung gekommen, dass eine höhere Bestrafung des Dieburgers am Landgericht nicht zu erwarten sei, erläuterte Arno Siebecker, stellvertretender Leiter der Staatsanwaltschaft Darmstadt, gestern nachmittag auf Fragen gegenüber dieser Zeitung. " (DE, 2.7.1998)

Das Darmstädter Echo kommentiert diese "Begründung" so:

"Die offizielle Begründung, man habe erst das Urteil im "Kaffenberger..-Prozess" abwarten und auswerten wollen, wirkt fadenscheinig ."

Aus Sicht des Kommentators wirkt die "Begründung" aus mindestens zwei Gründen "fadenscheinig":

  • Zum einen wird ihr vom zuständigen Abteilungsleiter, Oberstaatsanwalt Hans-Günter Klein, widersprochen, der feststellt, dass diese "Entscheidung auch schon Monate früher " hätte fallen können.


  • Zum anderen: Der Jurist in spe erhielt eine Haftstrafe von 4 Jahren - nicht für den Mord, sondern für Straftaten einer Schwere, die auch dem (wenig reumütigen) Dieburger vorgeworfen wurden.. Der sollte also auch am LG nicht mehr als seine "nicht tat- und schuldangemessenen" 2 Jahre Haft auf Bewährung erhalten?

Verschwörung?

Richter Eberhard Dehne sprach in seiner Urteilsbegründung zum Fall Kaffenberger von "unübersehbaren Ermittlungsfehlern und Pannen" und einem dadurch bedingten "zeitlichen Aufwand der Kammer, der alles andere als gewöhnlich" sei. (DE, 28.5.1998).
Ungewöhnliche Täter, ungewöhnliche Ermittlungen, ungewöhnliche Prozesse, ungewöhnliche Urteile - schließlich die ungewöhnliche Ermittler-Schelte durch einen Richter.
Und da in der jüngeren, deutschen Geschichte wohl niemals irgendein Richter in der Urteilsverkündung der ermittelnden Polizei "Verschwörung" vorwarf bzw. vorwerfen durfte, weder in der BRD, noch in der DDR, noch im Dritten Reich (weil in Deutschland zwar nicht der Fakt wohl aber der richterliche Vorwurf eine "wahnwitzige Vorstellung" ist), erscheint bereits der Zwang, eine solche "Verschwörung" der Ermittler am Ende dementieren zu müssen, schon fast als verdächtig.
Zumal wenige Wochen nach dem Urteil und der dementierten "Verschwörung" die Staatsanwaltschaft mit der "fadenscheinigen" Rücknahme der in Dieburg vollmundig angekündigten "Berufung" die vorherigen "Fehler" und "Pannen" in einem nunmehr nahezu schlüssigen Licht erscheinen lässt.
Eines jedenfalls ist sicher: Die "etlichen Wunden", in die laut Darmstädter Echo der sein Urteil begründende Richter Dehne die Finger legte, waren Wunden, die der Rechtsstaat erlitten hatte.

Untertänige Justiz

Waren die Vorgänge in Darmstadt und Dieburg, vor, während und nach den Gerichtsverhandlungen, singulärer Natur?

Einer der angesehensten deutschen Politikwissenschaftler, Prof. Wilhelm Hennis, wird 3 Jahre nach den Vorgängen in Südhessen, in einem vielbeachteten Essay für das Hamburger Magazin "Die ZEIT" den Begriff von " Deutschlands untertäniger Justiz" prägen.
Er empörte sich vor allem über die Absicht der Bonner Staatsanwaltschaft, keine Klage gegen die Verantwortlichen der "Bundeslöschtage" im Kanzleramt einzuleiten. Kurz vor dem Machtwechsel waren dort Zweidrittel aller elektronischer Daten gelöscht worden, auch Akten verschwanden klafterweise.
Für den 77 Jahre alten Politikwissenschaftler und promovierten Juristen Hennis ein Fall von "Staatskriminalität", der"beispiellos ist in der Geschichte westlicher Verfassungsstaaten."

Was sich 1998 für Professor Hennig an der Spitze des Staates zeigte, sogar im grellen Licht einer kritischen Öffentlichkeit, was sich an der in diesem Fall auffälligen Indolenz der Justiz in Bonn zeigte, es könnte in Wirklichkeit die Spitze des Eisbergs sein:
Die Bereitschaft von Dienern des Staates nämlich, nicht nur "Spenden", sondern auch das Recht für sich und die Partei zu kassieren - im tröstlichen Wissen, dass eine "untertänige Justiz" dies mitmacht, dass sie nur die Kleinen hängt und die Großen ja doch laufen lässt.

Soweit es das Vorgehen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Richtern angeht, fügen sich die außergewöhnlichen Vorgänge in Darmstadt und Dieburg daher womöglich doch in ein ganz verbreitetes, in ein ganz gewöhnliches, in ein ganz trostloses Bild.

Der Segen des BGH

Am 10. Juli 1999 berichtet das Darmstädter Echo ein letztes Mal über den Fall Kaffenberger - über einen Beschluss des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Dieses hatte einige Tage zuvor eine Revision verworfen, welche die Strafverteidiger des als Mörder verurteilten Industriekaufmanns eingelegt hatten.
Es habe in der Prozessführung und im Urteil am LG Darmstadt "keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten" feststellen können.
Wobei freilich keine Aussage über den brisantesten Vorwurf gemacht wird, ob es nämlich "Rechtsfehler" zum Vorteil der beiden anderen Angeklagten gab, insbesondere vor dem Prozess in Darmstadt, sowie vor, während und nach dem Prozess in Dieburg.
Da die Staatsanwaltschaft Darmstadt ihre Berufung gegen das "nicht tat- oder schuldangemessene" Urteil für den Prominentensohn zurückzog (nach einer "Anstandsfrist" von 10 Monaten), da sie ebenso die Revision gegen das aus ihrer Sicht ja noch viel weniger "tat- oder schuldangemessene" Urteil für den Juristen in spe unterließ, gab es kein Gericht mehr, welches über Vorzugsermittlungen, Vorzugsbehandlungen oder Vorzugsurteile entscheiden konnte.